Verliert die Schweiz ihren Digitalminister?
Bundeskanzler Walter Thurnherr ist eine Schlüsselfigur bei der Digitalisierung der Bundesverwaltung. Als höchster Stabschef gab er sich aber nie zufrieden mit der Digitalisierung interner Prozesse, sondern hatte stets eine Digitalvision für das ganze Land.
Walter Thurnherr hat seinen Rücktritt eingereicht – wie geht es weiter mit der digitalen Schweiz? In einem exklusiven Dialog mit Judith Bellaiche zieht er Bilanz über Errungenschaften, Höhen und Tiefen der Digitalpolitik und wagt einen Blick in die Zukunft.
Judith Bellaiche: Herr Bundeskanzler, wie fühlen Sie sich gerade?
Walter Thurnherr: Zurzeit sehr gut. Danke der Nachfrage, aber fragen Sie mich am Schluss des Interviews nochmals.
An der Pressekonferenz zu Ihrem Rücktritt haben Sie gesagt, dass Sie eigentlich einen Traumjob haben. Wieso geben Sie ihn auf? Am Alter kann es ja nicht liegen…
Ja, das Amt des Bundeskanzlers ist wirklich sehr spannend. Aber wie bei jedem anderen politischen Amt sollte man meiner Meinung nach nicht dann aufhören, wenn auch alle anderen finden, es wäre besser, man würde nun aufhören. Sondern vorher. Ich bin seit 34 Jahren in der Bundesverwaltung, bin seit acht Jahren Bundeskanzler und gehe seit 21 Jahren jedes Wochenende das Dossier mit allen Bundesratsgeschäften durch. Ich weiss jetzt ungefähr, wie es geht. Und jetzt würde ich gerne noch etwas anderes machen.
Sie sprechen zuweilen die multiplen Krisen an. Haben wir auch eine Digitalkrise?
Nein, aber wir stehen vor einigen gewaltigen digitalen Herausforderungen. Und wenn wir nicht aufpassen, könnte das schon zur einen oder anderen Krise führen, bzw. die Bewältigung der Krisen erschweren. Die Abhängigkeiten, Risiken, aber auch die unerhörten Chancen, die die Digitalisierung bietet, werden zum Teil unterschätzt.
Hätte der Staat mit einer fortgeschrittenen Digitalisierung die Krisen der vergangenen Jahre besser bewältigen oder sogar vermeiden können? Oder überschätzen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung?
Wir wären bestimmt besser unterwegs gewesen in der Pandemie, wenn wir in der Digitalisierung des Gesundheitswesens weniger Rückstand gehabt hätten. Wir waren ja bis zum Schluss nicht in der Lage, eine zeitnahe Übersicht über alle in unseren Spitälern ambulant behandelten Covid-Patienten zu erstellen. Auch die Konsultation der Kantone hätte mit einem digitalen Tool wesentlich schneller und wahrscheinlich auch übersichtlicher funktioniert, wenn wir ein solches Instrument zur Verfügung gehabt hätten. Und: Weder der R-Wert zur Verfolgung der Pandemie noch der Impfstoff zur Bekämpfung der Pandemie wären so schnell gefunden worden, wenn die Pandemie vor 30 Jahren, ohne Digitalisierung, passiert wäre.
Darüber hinaus ist die Pandemie kein Einzelfall. Im Zusammenhang mit der drohenden Strommangellage waren die zuständigen Stellen gezwungen zu bestätigen, dass wir in der Schweiz erst einige Woche später sagen können, wie viel Strom wir heute verbrauchen. Das wären eigentlich lösbare Probleme.
Umgekehrt muss man sagen: Die Cyberangriffe seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine (und auch schon vorher) machen deutlich, dass die Digitalisierung Krisen auch verschärfen kann.
Sie waren die treibende Kraft hinter der Strategie Digitale Schweiz. Diese hält eine ambitionierte Vision fest: «Die Schweiz priorisiert digitale Angebote konsequent zum Nutzen der Menschen («Digital First»).» Wo stehen wir heute? Ist diese Vision realistisch?
Ja, ich finde schon. Aber «Digital First» heisst nicht «digital only». Wir werden auch in Zukunft gut überlegen müssen, wo es überall eine Digitalisierung braucht. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Wenn wir uns dafür entscheiden, müssen wir die Sache vom Nutzen für die Menschen am Schluss der Kette herdenken: Was wäre sinnvoll, wo schaffen wir Mehrwehrt? Wenn man das ernsthaft tut, reicht es eben nicht, im eigenen Bereich eine Anwendung zu bauen und zu glauben, man habe jetzt «Digitalisierung gemacht».
Man müsste etwas über den Tellerrand hinausschauen. Unsere gegenwärtigen Verwaltungsstrukturen sind dafür nicht optimal geeignet. Ich sage immer: Die Digitalisierung ist eigentlich eine Verwaltungsreform, es haben es einfach noch nicht alle gemerkt.
Wo sehen Sie die Hürden für eine durchgängige Digitalisierung resp. der konsequenten Umsetzung von «Digital First»?
Es gibt viele Hürden: Ein generelles Misstrauen gegen die Digitalisierung, das zum Teil berechtigt ist, zum Teil aber auch kräftig geschürt wird. Die Investitionen, die nötig aber teuer sind. Die Doppelspurigkeiten, die eben entstehen, wenn dasselbe Angebot sowohl digital gebaut und betrieben als auch analog aufrechterhalten werden muss. Das Silodenken in einigen Amtstuben auf verschiedenen Verwaltungsebenen. Die mangelnde Fehlerkultur, von der die meisten gern sprechen, bis dann tatsächlich ein Fehler oder nur schon ein Rückschlag passiert: Hätten wir die Eisenbahn so eingeführt, wie sich heute gewisse Politiker die Digitalisierung vorstellen, dann hätten wir heute noch keinen öffentlichen Verkehr. Es gibt einige Hindernisse, aber man kann solche Hindernisse überwinden, wenn man wirklich will.
In diesem Jahr feiern alle die neue Bundesverfassung von 1848. Zurecht. Aber viele vergessen, dass das damals keine beschauliche, sondern eine radikal innovative Zeit war. Da gab es einige Persönlichkeiten, die die Schweiz wirklich verbessern wollten. Wenn heute einer mit einem Plan käme, er würde gerne eine Bergbahn auf die Jungfrau bauen, und dabei noch ein Loch in die Eigernordwand schlagen, damit man dort hinausschauen kann, man würde ihn für verrückt erklären. Aber umgekehrt könnten wir wieder etwas von diesem Pioniergeist brauchen, statt eine Vergangenheit heraufzubeschwören, die es so gar nie gab.
Sprechen wir über den Föderalismus. Wie überwinden wir den Schweizer Kantönligeist? Ist das tatsächlich eine staatsrechtliche oder nicht eher eine mentale Hürde?
Den Kantönligeist gibt es, ja. Aber es sind nicht alle Kantone gleich, und nicht immer ist alles eindeutig. Persönlich vermisse ich zuweilen die Einsicht, dass die Digitalisierung in vielen Bereichen mindestens nationale, wenn nicht internationale Standards braucht, und dass solche Standards weniger ein Eingriff in kantonale Zuständigkeiten sind, sondern vielmehr eine notwendige Voraussetzung für die Zusammenarbeit.
Digitalisierung ist, was entsteht, wenn Datenstandards und programmierbare Schnittstellen gut definiert und gelebt werden. Und ich bin zuversichtlich, dass sich mit der Zeit die Überzeugung durchsetzt, dass es wenig Sinn macht, wenn jeder Kanton eigene Regeln im Umgang mit künstlicher Intelligenz erlässt, oder wenn jede Gemeinde eigene Plattformen für den Datenaustausch baut.
Sie haben wichtige Digitalprojekte in der Bundesverwaltung vorangetrieben, die aber nicht immer gut zur Geltung kamen. Können Sie Schlüsselprojekte nennen, die uns zuversichtlich stimmen?
Zwei Beispiele: Erstens das Projekt E-ID, so wie es nach der Abstimmung wieder aufgenommen und im ständigen Dialog mit der Wissenschaft, der Politik und via GitHub mit der Öffentlichkeit zurzeit geführt wird.
Und zweitens, die Möglichkeit von Pilotversuchen, die wir mit dem EMBAG geschaffen haben. Diese Grundlage gilt es jetzt zu nutzen.
Bellaiche: Was war Ihr persönliches digitales Highlight?
Der Abschluss überdepartementaler Projekte war jedes Mal ein Highlight, da die Zeit von sieben, digitalen Departementswelten endgültig vorbei ist. Die Neuorganisation der Digitalisierung in der Bundesverwaltung, insbesondere die Schaffung eines Digitalisierungsausschusses auf Stufe Bundesrat. Die informellen Kontakte mit der Branche und dem Parlament, um gemeinsam herauszufinden, wie man das EPD, die Netzsicherheit, ein API Standard, oder eine Regulierung der KI befördern könnte. Die internationalen Kontakte mit einigen grossen Firmen und Namen, und die konkrete Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wenn es um die Schaffung eines Vote-Info Apps ging oder um die Beschaffung einer Swiss Government Cloud usw.
Es gibt so viele Möglichkeiten, und ich schätzte es jedes Mal, wenn plötzlich allen in einem Saal oder Büro bewusst wird, welche Verbesserungen die Digitalisierung möglich machen kann.
Künstliche Intelligenz ist derzeit allgegenwärtig und beschäftigt die Digitalindustrie, aber auch die gesamte Wirtschaft, stark. Welche Rolle messen Sie ihr bei, und wo sehen Sie Einsatzmöglichkeiten von KI beim Staat (resp. wo auf keinen Fall)?
Künstliche Intelligenz ist eine enorme Herausforderung, weil unerhörte Möglichkeiten und unerhörte Risiken gleichzeitig auftreten und nur schwierig zu trennen sind.
In erster Linie sollte sie unterstützen, vereinfachen und vorbereiten. Da haben wir grosses Potential in der Verwaltung. Heute setzen wir etwa bei der Übersetzung künstliche Intelligenz ein. Das macht die Arbeit effizienter, aber auch anspruchsvoller. Gleiches ist in anderen Bereichen denkbar, beispielsweise könnte KI bei der Vorbereitung von Berichtsentwürfen, Zuteilungen oder sogar Verfügungsentwürfen unterstützen. Ich sage bewusst «unterstützen», da ich eine Grenze sehe bei den Entscheiden, beispielsweise beim Erlass einer Verfügung. Diese Entscheide müssen nachvollziehbar sein - was bei KI heute nicht der Fall ist.
Hat die Schweiz angesichts des Regulierungsdrucks aus der EU und des Gesetzes über Künstliche Intelligenz (AI Act) überhaupt eine Chance, sich zu emanzipieren und sich als Hub für Künstliche Intelligenz zu etablieren?
Natürlich zählen Grössenverhältnisse bei der Entwicklung von KI. Es braucht gewaltige Datenmengen und hohe Rechenleistungen. Aber die Schweiz bietet dafür nicht so schlechte Voraussetzungen, im Gegenteil, wenn Sie an die Rechenleistung der ETHs denken.
Darüber hinaus hat die Schweiz in diesem Bereich einige sehr kluge Köpfe in Lugano, Zürich oder Lausanne ausgebildet, oder sie sind heute in der Forschung. Diese Expertise sollten wir nutzen! Und schliesslich kann man auch mit einer gezielten und raschen Regulierung Sicherheiten schaffen, bzw. die Standortattraktivität erhöhen, wenn Sie an die Distributed Ledger Technologie im Finanzbereich zurückdenken.
Im Bereich KI wird die Regulierung allerdings nicht gehen ohne internationale Zusammenarbeit. Digitalisierung ist in diesem Sinn auch Völkerrecht und ein Beleg für die Notwendigkeit aussenpolitischer Vernetzung.
Sprechen wir über eines Ihrer Lieblingsthemen: Quantenphysik. Wie schätzen Sie die Chancen und Risiken von Quantencomputing ein. Ist diese Technologie relevant, und wenn ja, in welchen Einsatzgebieten?
Quantencomputing ist für gewisse (nicht für alle) Berechnungen und Verschlüsselungen von immens grosser Bedeutung, weshalb sich auch viele Institute und Banken schon seit Jahren mit «Quantum Resilience» befassen. Der inzwischen etwas viel zitierte Satz von Bill Gates gilt wahrscheinlich auch hier: die Möglichkeiten der nächsten zehn Jahre werden in der Regel überschätzt, jene der nächsten zwanzig Jahre unterschätzt. Für mich sind die Grundlagen des Quantumcomputing immer ein Hinweis auf die unerhörten Möglichkeiten gewesen, die entstehen, wenn wir von den binären Zuständen zu den Superpositionen übergehen. Da liegt noch viel drin. Es ist wie in der Politik: Die Wahrheit liegt nur selten bei O oder 1, sondern in den Tausend Variationen irgendwo dazwischen.
Sie haben ein einzigartiges Verständnis von Digitalisierung und Zukunftstechnologien – als Bundeskanzler sind Sie der digitale Jackpot! In wenigen Wochen werden Sie Ihr Amt abgeben. Ist es das Ende der digitalen Transformation bei Staat?
Überhaupt nicht. Unser System ist darauf angelegt, dass es weniger auf die Personen und mehr auf die Abläufe ankommt. Wir sammeln kollektive Intelligenz, zumindest sollten wir das. Inzwischen helfen sehr viele, sehr gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit. Und im Übrigen gibt es genügend Leute, auch in der Politik und Verwaltung, die finden, ohne sie kann es nicht besser werden…
Braucht die Schweiz eine Digitalministerin oder einen Digitalminister?
Nein, die Digitalisierung ist allgegenwärtig, alle Minister werden sich mehr mit der Digitalisierung beschäftigen müssen. Was es braucht, ist a) der gemeinsame Wille, die Verwaltung neu zu denken, b) das Engagement, die Möglichkeiten der Digitalisierung für die Bürgerin und den Unternehmer effektiv zu nutzen und c) viel Kopfarbeit und internationale Vernetzung für eine kluge Regulierung. Wagen wir zum Schluss einen Blick in die Zukunft.
Es ist das Jahr 2040: wo steht die Schweiz punkto Digitalisierung? Und wie ist der Stand der Umsetzung Ihrer Strategie Digitale Schweiz?
Sie ist umgesetzt! Andernfalls kandidiere ich dann nochmals für den Bundeskanzler (lacht).
Lieber Herr Bundeskanzler, herzlichen Dank für das Gespräch!